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Wie ein Schicksalsschlag zur freiwilligen Sterbebegleitung führte

18.07.2014

Wie ein Schicksalsschlag zur freiwilligen Sterbebegleitung führte

"Was wollen Sie wissen?" Claire Domenig, 75, ist klar und direkt. Eine Frau, die genau weiss, was sie will. Claire Domenig ist warmherzig. Sie gibt einem Gast nicht nur die Hand – sie empfängt ihn. Mit einem klaren, warmen Blick, umfasst die Hand des Gastes mit beiden Händen. Claire Domenig ist IDEM-Leiterin im Alters- und Pflegeheim Bodmer in Chur. IDEM bedeutet "Im Dienste eines Menschen" und meint Freiwilligenarbeit. Dieser besteht aus einer bis drei Stunden unentgeltlichem Einsatz pro Woche für die Bewohnerinnen und Bewohner. "Es wird immer schwieriger, Menschen zu finden, die das tun wollen", bedauert die temperamentvolle Seniorin. Früher hätte die Gruppe aus 20 bis 25 Freiwilligen bestanden – heute seien es grad noch 15, davon ein Mann. Und niemand aus dieser Gruppe wäre derzeit bereit, die Leitung zu übernehmen. Das macht der motivierten Frau etwas Sorgen.

Elisabeth Kübler-Ross als prägendes Vorbild

Angefangen hat ihr Engagement vor vielen Jahren mit einem Schicksalsschlag. Sie war schwanger mit dem dritten Kind. Sie spürte, dass etwas einfach nicht stimmte. Zunächst versuchte man sie zu beruhigen. Als sie nicht nachliess und Abklärungen eingeleitet wurden, bestätigte ihr der Arzt, dass ihr Kind seit einem Monat tot war. Im sechsten Monat schwanger, gebar sie ihr totes Kind. "Es war furchtbar", erinnert sich die Mutter einer erwachsenen Tochter und heute mehrfache Grossmutter. Sie wollte aber nicht in diesem Leid verharren, sondern sie wollte etwas Positives aus ihrem Leben machen. Die in Neuenburg aufgewachsene Domenig sah per Zufall ein Inserat für Workshops mit  der Sterbeforscherin  Elisabeth Kübler-Ross und meldete sich an. Drei Monate lernte sie in einem Sterbehospiz in Genf von ihrem grossen Vorbild. "Sie war eine unglaubliche Frau", stellt die Welsch-Bündnerin anerkennend fest. Das Haus, das als Sterbehospiz diente, hätte ursprünglich als eine Art Erholungs-Klinik für Frauen dienen sollen, die Fehlgeburten erlebt hatten. Diese Privatklinik war eine Schenkung einer prominenten Frau. Es blieben jedoch die Frauen aus – und die Klinik wurde zum ersten Sterbehospiz in der Schweiz. "Alle, von der Putzfrau bis zum Professor, sprachen über das Thema Tod, das war sehr eindrücklich", erzählt die IDEM-Leiterin. Als sie damals bei Kübler-Ross vorstellig wurde, machte diese deutlich, dass sie ausdrücklich nur mit Menschen zusammenarbeiten wollte, die in ihrem Leben vom Schicksal bereits hart geprüft worden waren. Nach dieser prägenden Begegnung und der eindrücklichen Lehrzeit im Hospiz war für die ehemalige Laborantin klar, dass sie genau das tun wollte: freiwillige Sterbebegleitung leisten.

Vom Geheimnis des Loslassens

Als ihr Mann beruflich nach Graubünden versetzt wurde, versuchte sie, die Hospizbewegung nach Chur zu bringen. "Ich war 20 Jahre zu früh", resümiert die initiative, selbstbewusste Frau. Seit 25 Jahren nun begleitet sie im Altersheim Bodmer ehrenamtlich Bewohnerinnen und Bewohner, rekrutiert und betreut die freiwilligen Helferinnen und Helfer. Sie begleitet auch Sterbende. Sie staunt darüber, wie Menschen plötzlich loslassen können, wenn sie jemanden haben, dem sie all die Sachen anvertrauen können, die sie noch belasten. "Das ist ein Secret", also ein Geheimnis, wie das funktioniere. Sie fände es sinnvoll, wenn die Menschen eine Begleitperson hätten, so lange sie noch selbstständig seien, doch das würden diese meist nicht wollen. Es sei schwieriger, eine Beziehung zu einer Begleitpersonerst erst dann aufzubauen, wenn die Menschen bereits auf Betreuung angewiesen seien. Die interessierten Freiwilligen sucht sich die IDEM-Leiterin sorgfältig nach deren Motivation für ihren Einsatz aus. "Es geht nicht, dass jemand einfach seine Zeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern totschlagen will." Man müsse die alten Menschen gern haben, auf sie eingehen können, ihnen etwas schenken wollen – dann komme nämlich auch etwas zurück. Und man dürfe nicht jede Laune der Bewohner persönlich nehmen. Was es vor allem brauche, sei "ein Stuhl mit drei Beinen, das heisst ein offenes Ohr, bereit sein, Zeit zu schenken und ein grosses Herz". Einen Wunsch trägt sie tief in ihrem Herzen: dass jedes Altersheim, jedes Spital und Gefängnis in Graubünden eine IDEM-Gruppe hätte. Und sie wünscht sich fürs Bodmer noch mehr IDEM-Frauen und -Männer. "Offene Wünsche sind motivierend und ziehen uns nach vorne", ist Domenig überzeugt.

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