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Lilly Bardill, Hanna Danz und Esther Suter im Gespräch

20.11.2013

Lilly Bardill, Hanna Danz und Esther Suter im Gespräch

Die Freundinnen Lilly Bardill, Hanna Danz und Esther Suter leben im Evangelischen Alters- und Pflegeheim Masans in Chur. Lilly Bardill und Esther Suter in einer Wohnung, Hanna Danz hat nach einem Hirnschlag von einer Alterswohnung in ein Zweierzimmer auf der Pflegeabteilung gewechselt. Die drei Frauen erzählen einander aus ihrem Leben und über ihre Sicht auf das Alter und auf das Älterwerden. Eine Momentaufnahme im Beisein der Webmasterin Astrid Scholtz.

A. Scholtz: Wie alt fühlen Sie sich heute Morgen?

L. Bardill: Eigentlich so alt, wie ich bin, jetzt dann 78. Obwohl, innerlich fühle ich mich viel jünger. Meistens. Es gibt Tage, da fühle ich mich wie 100. Von der Freude, von der Begeisterung für Sachen, von der Begegnung her fühle ich mich 45, 50.

A. Scholtz: Und was macht diesen Unterschied aus?

L. Bardill: Wenn körperliche Beschwerden da sind. Oder eine grosse Müdigkeit. Ich bin oft müde. Dann fühle ich mich alt. Oder wenn ich etwas sehr Anstrengendes mache. Und du (zu H.Danz)?

H. Danz: Jetzt weiss ich, dass ich alt bin. Ich habe das immer etwas auf die Seite geschoben, weil ich mich jung gefühlt habe. Aber heute Morgen zum Beispiel, bin ich aufgestanden, habe mich gewaschen, habe geturnt. Gewöhnich friere ich nach dem Turnen. Das ist doch ein Zeichen, dass ich einen alten Körper habe, wenn ich nach dem Turnen friere. Da kam eine liebe Schwester und hat mich bis oben ganz warm zugedeckt. Nun weiss ich, dass ich 89 bin. Oder wenn ich ganz starken Schwindel habe. Dadurch, dass ich einen Hirnschlag hatte, hat das Leben einen Strich gemacht, eine Grenze gezogen. Ich versuche, dieser Grenze entlang zu gehen. Mit Lesen, mit Schreiben, mit Reden, was ich zuerst nicht konnte, mit Üben. Gestern in der Physiotherapie musste ich das linke Bein heben und zugleich den rechten Arm. Das konnte ich einfach nicht, weil es zwei Verbindungen sind. Wir haben etwa eine halbe Stunde geübt. Heute habe ich es auf dem Rollator geübt, da ist es sofort gegangen.

L. Bardill: Es braucht einfach mehr Zeit, bis etwas drin ist, gell?

H. Danz: Da hat sich etwas in mir gekreuzt, was nicht schön parallel ging. Und meine Blase darf ich nicht herausfordern. Ich lese nur so lange, bis ich einen kalten Hintern habe.

E. Suter: Wenn ich auf den Bus warte, sitze ich immer auf eine Folie. Du musst auch so eine nehmen.

A. Scholtz: Gebt ihr euch jeweils gegenseitig Tipps?

H. Danz: Ja. Und Esther kann so wunderschön fotografieren. Von Lilly bekomme ich Krimis. Dann brauche ich immer deine Fotos als Buchzeichen. Jetzt habe ich das Foto mit dem doppelten Regenbogen. Mir helfen diese Fotos.

L. Bardill: Sie sieht immer so spezielle Sachen.

E. Suter: Das hilft mir sehr. Ich mache eben auch gerne lustige Fotos. Dann mache ich einen Spruch dazu. So kann ich jemanden zum Lachen bringen. Am Bazar hat unser neuer Chef etwas über den Neubau gesagt. Vorne hatte es drei grosse Fahnen. Letzthin habe ich gesehen: Da sind nur noch "Fötzeli". Das habe ich fotografiert. Dann habe ich ihm diese Foto geschenkt und gesagt: Es ist bald Zeit. Er meinte: Die müssen sicher noch neue Fahnen aufhängen. Jetzt sind alle drei nur noch so – sie wurden immer weniger, wie bei uns auch.

A. Scholtz: Wie alt fühlen Sie sich heute, Frau Suter?

E.Suter: Ja, das schwankt sehr. Ich denke, so lange es im Kopf noch gut ist. Also gut, ich bin vergesslich. So lange ich noch logisch denken kann, geht es mir gut. Dann habe ich halt hin und wieder im stillen Kämmerlein Depressionen. Es ist also nicht alles so, wie es aussieht.

L. Bardill: Das ist bei allen. Und man hat einfach seine schweren Stunden. Ich denke oft, wenn es schwierig ist: Das habe ich früher auch gehabt. Sogar schlimmer.

E. Suter: Nein, das hatte ich nicht. Ich wundere mich heute manchmal, wie ich das durchhalten konnte. Ich habe aber auch mehr Angst. Ich merke es an meiner Tochter und an meinen Enkel. Ich habe nur sie. Ich habe keine Eltern. Und wenn da etwas nicht klappt, was immer wieder vorkommt, dann geht es mir nicht gut, dann habe ich eine Depression.

L. Bardill: Du hast so schwer mit loslassen.

E. Suter: Das ist so dieser Spruch – loslassen. Meine liebste Freundin ist vor zwei Monaten gestorben. Das macht mir heute noch Mühe. Sie hatte es sehr schwer mit Gehen.

L. Bardill: Das ist im Alter wirklich so, dass man von Vielen Abschied nehmen muss.

E. Suter: Sie wollte keine Hilfe, sie wollte keine Sterbehilfe.

L. Bardill: Das ist ein Abschied, und Abschiede fallen einfach schwer.

E. Suter: Sie fehlt mir halt.

H. Danz: Du kannst nicht mehr telefonieren.

E. Suter: Seit ich 25 bin, war dieses Vreni einfach da. Ja, die Frau Suter, die ist doch so eine Aufgestellte!

L. Bardill.: Man darf auch traurig sein, wenn man jemand wirklich gern gehabt hat. Ich selber finde den Tod nicht schlimm.

H. Danz: Ich habe viel mit Lilly geredet. Ich habe immer furchtbar viel geweint, wenn jemand gestorben ist, gell? Einmal ist eine ganz liebe Freundin gestorben. Da dachte ich: So, jetzt will ich nicht mehr weinen. Aber wie mache ich das? Ich lag auf dem Bett und dachte über ihr Leben nach. Sie war Musikerin. Dieser Mensch war voller Musik. Da habe ich mir vorgestellt, wie sie auf der anderen Seite in die Reihe der Engel steht, habe mir vorgestellt, wie sie singt. Und seit da stelle ich mir jeden Menschen vor, wie er in die Ewigkeit aufsteigt. Jetzt muss ich nicht mehr weinen. Ich zünde eine Kerze an und sage in Liebe Adieu. Damit ich Abschied nehmen kann.

E. Suter: Ich kann nicht mehr weinen. Ich bekomme höchsten etwas Augenwasser. Vreni war gleich, wie ich. Wir waren zusammen in der Yogaschule, haben zusammen bei diesem indischen Arzt gearbeitet. Sie ist jetzt einfach hinüber in die geistige Welt gegangen.

L. Bardill: Genau, aber deswegen kann man sie eben doch vermissen. Der Verlust ist trotzdem da.

L. Bardill: Ich denke, all die Toten sind um uns herum. Ich erlebe das auch immer wieder, dass ich das merke.

A. Scholtz: Reden Sie auch sonst miteinander über diese Erfahrungen?

E. Suter: Ich sonst nicht.

L. Bardill: Ich und Hanna schon.

E. Suter: Mit Vreni konnte ich eben auch darüber reden.

L. Bardill. Hanna und ich kennen uns seit 61 Jahren.

H. Danz: In- und auswendig.

L. Bardill: Ja, wirklich. Obwohl, in- und auswendig lernten wir uns eigentlich erst hier kennen.

H. Danz: Wir können uns alles sagen, gell.

L. Bardill: Manchmal bin ich schon brutal offen.

H. Danz: In meinem ganzen Leben, wenn ich in einem Clinch war, nicht wusste, ob nach rechts oder nach links, da waren immer Freundinnen da, die mir weiterhalfen. Mein ganzes Leben lang.

E. Suter: Ich war eben sehr, sehr viel allein, schon als Kind. Dann später nach der Scheidung war ich allein mit meinem Kind. Aber ich brauche das Alleinsein. Wenn ich irgendwo bin, dann freue ich mich wieder zum Gehen. Es reicht dann grad wieder.

L. Bardill: Mein Peter hat das ganz schön gesagt. Mein Partner ist vor drei Jahren gestorben. Er sagte: Wenn du wählen könntest, nie allein sein oder immer allein sein, ich weiss genau, was du wählen würdest. Es ist enorm wichtig, das Alleinsein können und dürfen.

H. Danz: Das ist ein Riesenunterschied von jetzt, im Pflegeheim zu vorher in der eigenen Wohnung. Da konnte ich mich zurückziehen, hatte den Balkon. Jetzt, das Zimmer gehört nicht mir, es ist ein öffentlicher Platz. Während ich heute Morgen Maniküre gemacht habe, hat die Pflegerin meine Mitbewohnerin gebadet, und ich habe alles mithören müssen, was sie gesagt hat.

L. Bardill: Geduld zu lernen ist eine grosse Schule im Alter. Eine harte Schule. Wenn man das nicht lernt, stürzt man dauernd oder ist dauernd unzufrieden. Geduld mit sich und anderen, aber in erster Linie mit sich selber. Wenn etwas nicht mehr so schnell geht, wie man es möchte. Ich habe auch gemerkt, dass gewisse Menschen, die viel um ältere Leute sind, sehr laut reden. Sie haben den Eindruck, dass man sie sonst nicht versteht. Ich habe dann angefangen zu sagen, dass sie mit mir ganz normal reden können.

E. Suter: Wegen der Geduld, da kommt mir Herr B (Bewohner) in den Sinn. Er sieht nichts mehr und sitzt jeweils im Gang. Da kommt eine Frau immer mit dem Rollator und geht hin und her. Er nimmt es mit Humor und sagt: Warten, warten, immer nur Warten. Warten, warten, immer nur Warten.

L. Bardill: Man muss ja wirklich so weit kommen, das man auch das Lustige sieht oder das Komische. Es hat Alles mindestens zwei Seiten.

E. Suter: Ich habe gemerkt, dass ich auch vermehrt Selbstgespräche führe.

L. Bardill: Da gibt dir niemand Widerworte, gell!

H. Danz: Und ich habe gemerkt, bei mir wussten die Pflegenden anfangs nicht, was sie mit mir anfangen sollen. Da ist eine neue Bewohnerin, die redet, eine, die denken kann und sich noch ziemlich bewegen kann und die fast alles selber macht. Frau Danz, was kann ich ihnen helfen? Nichts, sie müssen mir nichts helfen. Sie sind gewöhnt mit solchen, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind.

L. Bardill: Ich finde, es ist ein Trost, dass wenn ich hier in der Wohnung bin und weiss, dass wenn es nicht mehr geht, dass das Pflegeheim ganz nahe ist. Ich denke, es ist ein grosser Fehler im Alter, dass man zu lange in einem zu grossen Haus bleibt und zu lange wartet. Dann kommen sie notfallmässig hierher und finden die Zufriedenheit nicht mehr. Das finde ich so schade. Ich konnte hier einen dritten Lebensabschnitt mit Freude anfangen.

E. Suter: Was mir bewusst wurde: Ich konnte mein Leben lang eigentlich nicht mich selber sein. Ich musste immer für andere da sein. Als Kind, während des Krieges, von einer Familie in die andere, weil der Vater ins Militär musste und Mutter war gestorben. Dann, als ich hierher kam – gut, am Anfang musste ich hier viel lernen. Meine Tochter ist auch geschieden. Ich war am Tag dort bei den Buben. Dann kamen die Buben in ein Alter, wo sie nicht mehr die Grossmutter brauchten. Dann war ich allein in meiner Wohnung. Der Arzt schlug mir vor, zur Pro Senectute zu gehen. Hier bin ich grad an Lilly geraten. Die hat mir ihre Wohnung gezeigt. Da habe ich mich hier angemeldet. Nach einem Jahr konnte ich dann in diese Wohnung. Da hatte ich das Gefühl: Jetzt bin ich nicht mehr so allein. Ich habe gelernt, mich selber zu sein. Das, was ich immer verdrängen musste, kann ich jetzt hinauslassen. Früher musste ich immer schlucken.

H. Danz: Ich habe das Gefühl, dass seit die Leute merken, wer du bist, dass du fotografieren kannst, seit sie dich spüren, bist du ein anderer Mensch geworden. Die Anerkennung hat dir viel, viel eingebracht.

E. Suter: Ich habe auch gemerkt, dass ich mit meiner Art, wenn ich grummlig herumgehenden Leuten Grüezi sage, dann blühen sie auf und fangen an zu strahlen.

L. Bardill: Wie man in den Wald ruft, so kommt es zurück.

E. Suter: Ich bin ja bald sieben Jahre da. Da habe ich wirklich gemerkt, da verändert man sich. Ich habe nie aufgehört zu suchen, nach dem Sinn des Lebens.

L. Bardill: Ich habe die Auffassung, solange man noch interessiert ist, hat man irgendwie mehr Daseinsberechtigung, es ist zwar ein blödes Wort. Solange ich neugierig bin, sind die Tage einfach erfüllt und schön. Die Möglichkeiten, die wir haben im Gegensatz zu den alten Leuten früher, sind enorm. Ich kann gar nicht verstehen, dass jemand sagt: Ist das langweilig. Was will man jammern, dass man alt ist. Ich sehe bei den Jungen mehr und enorm grössere Probleme.

E. Suter: Einer meiner beiden Enkel hat auch furchtbare Probleme mit dem Leben. Er hat einfach seelische Probleme.

A. Scholtz: Was denken Sie, woran könnte das liegen, dass die jungen Leute heute mehr Probleme haben, als früher?

L. Bardill: Also ich denke, das liegt daran, dass es ihnen finanziell so gut geht. Nicht alle, ich habe zehn Enkel, und da gehört nicht einer zu denen. Aber die allermeisten können sich einfach zu viel leisten. Dadurch haben die wertvollen Sachen des Lebens irgendwie keinen Platz.

E. Suter: Es ist aber nicht nur das. Vielen von denen hat man das und das geschenkt und sich nicht so mit ihnen befasst.

L. Bardill: Dass eine gewisse Ordnung geherrscht hat.

E. Suter: Ja.

L. Bardill: Wenn ich so zusammenfassen müsste, dann habe ich es eigentlich noch nie so gut gehabt, wie jetzt. Sagen wir, man kann sich das leisten, was man sehr gerne hat. Man hat Freunde. Jedenfalls ich empfinde so: Ich habe so viel Positives, dass das Negative einfach zu ertragen ist.

E. Suter: Einmal hatte ich das Gefühl, ich müsse hier weggehen. Aber, auch grad mit dem Büchlein*, kennt mich hier natürlich unterdessen jeder. Mir ist dann bewusst geworden, dass ich hier noch eine Aufgabe habe. Und wenn es nur die ist, andere ein wenig zum Lachen zu bringen.

* "Alter Schützt vor Freude nicht" von Lilly Bardill, Hanna Danz und Esther Suter"
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